Schreibend beobachten – Beobachtend schreiben

Die erste Übung aus dem Studienheft des Grundkurses der Schule des Schreibens. Aufgabe war es, sich in einen Raum zu setzen und alles zu notieren, was man hört, sieht, riecht und fühlt, um daraus einen kurzen Text zu verfassen. Bis zum Ende soll sich etwas bewegt haben, sei es ein Gefühl oder eine Sichtweise. Die Inspiration der Belletristik findet sich selbst im Chaos.

Inspiration aus dem Chaos

Eine Spinne seilt sich von der Decke ab. Ich erinnere mich vage, dass sie gegen November hier eingezogen war. Der Winter stand vor der Tür. Sie kroch durch das Kippfenster und richtete sich mit ihrem Netz in einer Ecke der Küche ein. Sie ahnte nicht, in ihrem Durchgangshotel leben zwei Raubtiere, die sich auf alles appetitliche stürzen.

Ich nehme einen großen Schluck Kaffee und behalte die winzige Spinne im Blickfeld. Welches Ziel hat sie sich wohl ausgesucht? Ich höre Lilly schnattern. Der übliche Laut einer Katze, wenn sie beute sichtet. Der achtbeinige Untermieter scheint nicht der Grund zu sein, denn meine Ohren vernehmen ihr Galoppieren den Flur entlang, Richtung Badezimmer. Das Krabbeltierchen ist von Glück beseelt. Drei Monate hängt sie hier schon herum, ohne dass sie die Aufmerksamkeit ihrer Erzfeinde auf sich zieht.

Das Gurgeln eines Motors stört die friedliche Stille. Er springt nicht an. Nach jedem Neustart säuft er wieder ab. Der Nachbar und sein unterkühlter Roller. Das Fluchen dringt durch das Kippfenster, gefolgt von einem Kinderlachen. Ich wende mich den Geräuschen zu. Schneepulver rieselt von den kahlen Ästen eines Baumes. Ich spüre die leichte Brise im Gesicht, die sich durch die schmale Öffnung des Fenster drängt. Ein kleines Mädchen mit neongrüner Skihose sammelt Schnee, formt ihn zu Kugeln, um diese auf den Boden zu werfen. Bei jedem Wurf gackert sie wie ein aufgescheuchtes Huhn.

Ich stelle die Tasse ab. Getrocknete Kaffeeflecken zieren den Rand des Trinkbechers. Ein unappetitlicher Anblick. Auf dem Küchentisch stapeln sich Werbeprospekte, Flyer und Apothekenmagazine. Die aktuelle Ausgabe, die obenauf liegt, ist mit Flusen aus Staub und Katzenhaaren bedeckt. Ich hole tief Luft und puste. Die Haarstaubflusen wirbeln auf und segeln langsam von der Tischplatte hinunter.

Meine Augen fokussieren die Tischdecke. Aufgedruckte Schneekristalle in Silber und Gold erinnern an die Weihnachtsfeiertage. Am Ende des Tisches steht eine schwarze Geschenktasche, bedruckt mit weißen Schneeflocken und einem grinsenden Rentierkopf. Anstatt die Beutel zu entsorgen, nutzen wir ihn für Quittungen aus dem Supermarkt. Bis heute ist es mir ein Rätsel, weshalb wir sie monatelang sammeln.

Irgendetwas kitzelt meine Beine. Ich senke den Kopf. Schon wieder so ein Flusenball. Der Windzug treibt die staubigen und haarigen Kugeln über den Küchenboden. Sie bewegen sich wie Steppenhexen in der Wüste. Letzte Woche gesaugt und heute schon ein Sammelsurium kleinster, unbeliebter Partikel.

Das Geschirr steht in der Spülmaschine, die nur darauf wartet eingeschaltet zu werden. Die Tasse passt sicherlich noch rein. Die Waschmaschine piept. Endlich! Die Sitzkissen sind fertig. Mir schmerzt allmählich der Hintern vom harten Holz des Küchenstuhles. Mein Blick schweift wieder über den Tisch. Direkt vor mir liegt der Studienausweis. Die Aufregung lässt das Herz schneller schlagen. Habe ich den Schritt tatsächlich gewagt? Ich nehme den Ausweis in die Hand und streiche über das kühle Plastik.

Es dauert eine Weile bis ich realisiere, dass es mein Name ist, der drauf steht. Ich lächle. Es ist die Chance an meinem Schreibstil zu feilen und mich zu verbessern. Ich sehe die Spinne und Flusen plötzlich mit anderen Augen. Sie sind Inspiration für die zweite Übung aus dem Studienheft. Die Motivation ergreift mich. Genug herumgesessen und gegrübelt. Ihr lieben Haarstaubflusen, gleich werdet ihr vom Staubsauger gefressen. Steppenhexen sind hier nicht Willkommen. Adieu!

Randinformationen

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