Zweite Einsendeaufgabe

Die  Kurzgeschichte „Der Rheinfall“ ist meine zweite Einsendeaufgabe im Rahmen des Belletristik Grundkurses. Das Thema war die „Ortsbeschreibung“ in einer Kurzgeschichte (Szene). Da ich im Sommer 2020 den Rheinfall direkt vor Augen hatte, entschied ich mich, meinen Protagonisten Peter zu diesen faszinierenden Ort zu schicken, damit er seine gescheiterte Beziehung innerlich verarbeiten kann.

„Wenn man in seinen Gedanken versinkt, darf man sich nicht mit seichtem Wasser begnügen.“

Ernst R. Hauschka (Deutscher Aphoristiker)

Der Rheinfall

Peter kramt hektisch die Geldbörse aus seinem Rucksack. Hinter ihm bildet sich eine lange Schlange. Für einen Moment schwindet die Vorfreude auf die Besichtigung des Rheinfalls in Schaffhausen. Die wartenden Touristen murmeln unverständliche Worte vor sich hin. Peter sieht bei der Dame hinter sich die Falten auf der Stirn. Konzentriert sie sich oder wird sie gleich einen emotionalen Ausbruch bekommen? Er scheucht die Gedanken von sich, kramt weiter und findet schließlich sein Portemonnaie.

»Na wird ja auch mal langsam Zeit«, ruft ein junger Mann. Einige andere Besucher atmen erleichtert auf. Peter wischt sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Mit dem Ticket in der Hand eilt er zum Eingang, steckt es in den Automaten und begibt sich durch die Drehtür. Die Blase drückt. Er schaut sich um und entdeckt die kleine Holzhütte mit dem Toilettenzeichen, tapst hinüber und stillt sein Bedürfnis.

Der Pfad ist verständlich ausgeschildert. Peter entscheidet sich für den Aufstieg zur Plattform Belvedere. Nach jeder Stufe brennen die Muskeln in seinen Waden. Vor ihm quält sich ein älteres Ehepaar die Treppe empor. Der grauhaarige Herr stützt seine gebrechliche Gattin.

Geschafft! Das Ziel liegt direkt vor seiner Nase. Der Ausblick ist umwerfend. Ein riesiges Naturschauspiel umgeben von Bäumen und vereinzelten Häusern. Im Rheinfallbecken treiben die gelben Boote der Felsenfahrt-Tour wild umher. Die Schiffsführer müssen sehr erfahren sein, sich dieser Wassermenge zu stellen, die aus dreiundzwanzig Metern auf sie herabfällt. Er stellt sich diese Kraft vage vor.

Die nächste Station ist der Aussichtspunkt Fischet. Darauf freut sich Peter schon seit Tagen, denn hier erlebt er den Rheinfall hautnah. Mit einer Hand umklammert er das Geländer, die Vibration breitet sich im gesamten Körper aus und wirkt wie eine Massage, verabreicht von Mutter Natur. Der Boden bebt unter seinen Füßen und das Wasser spritzt ihm ins Gesicht.

Er beugt sich leicht nach vorne und streckt beide Arme zur Seite aus. Er genießt die innere Ruhe, die durch seinen Körper strömt. Das kühle Wasser spült Kummer und Sorgen fort, reinigt ihm Geist und Seele. Das laute Getöse des Wasserfalls dringt in seine Ohren. Die natürlichen Kräfte, frei von anstrengenden Diskussionen, Großstadtlärm und hysterischem Gekreische seiner Ex-Freundin.

Peter legt seinen Kopf in den Nacken und schaut nach oben auf den Felsen, auf dem die Schweizer Flagge weht. Die sanften Bewegungen im Wind vermitteln ihm die Freiheit, die er lange nicht mehr empfand. Eifersuchtsdramen und die Sehnsucht nach seelischer Verschmelzung prägten die letzten acht Jahre seines Lebens. Er braucht Struktur, feste Rituale und Ruhe, um seine Gedanken zu sortieren. Die Beziehung wie auch das Ende, brachten Chaos in den Alltag.

Mit langsamen Schritten kehrt er auf den Wanderpfad zurück. In der Ferne sieht er einige Touristen aus dem Fahrstuhl aussteigen. Seine Muskeln hätten ihm diese Beförderungsart gedankt, doch er versucht, Menschenmengen zu meiden, erst recht auf so engstem Raum. Hier draußen beim Spaziergang nimmt er die Natur entspannt wahr. Das Wasser peitscht an die Felsen und prallt wieder ab. Er schlendert zum nächsten Aussichtspunkt, wo der Wasserfall im Rheinfallbecken mündet.

Die Kraft des Aufpralls wirbelt das kalte Nass durcheinander und an einigen Stellen bilden sich Strudel. Die gelben Boote kommen diesen nahe, aber nicht dicht genug, von ihnen in die Tiefe gesogen zu werden. Ein angenehmer Moment, das Chaos von außen zu betrachten, ohne selbst darin verwickelt zu sein. Peter lächelt und eine Träne kullert ihm über die Wange. Die Träne der Erleichterung.

Das Handy vibriert in der Hosentasche. Heute wird er nicht auf das Display schauen, um festzustellen, dass sie ihn wieder anruft, damit er sich weitere Vorwürfe anhören darf. Ab jetzt bestimmt diese Frau nicht mehr, was er zu tun und lassen hat, denn sie schenkte ihm dank ihrer eigenen Untreue die Freiheit.

Randinformationen

Protagonist und Handlung sind frei erfunden. Sie nehmen keinen Bezug zur Realität. Falls Ähnlichkeiten bestehen, war dies keine Absicht.

Das Beitragsbild habe ich selbst in Schaffhausen fotografiert und mit Canva gestaltet. Das Foto darf nicht ohne meine Erlaubnis kopiert, weiter verarbeitet und in anderen Portalen hochgeladen / angeboten werden.