Spontane Geschichte

Ich stelle euch eine weitere Übung aus dem Studienheft der Belletristik vor. Wir sollten einen Satz aus einem Buch picken, um daraus eine Geschichte zu formulieren. Zeitungen und Magazine waren auch möglich. Ich habe mich für den Roman „Nocturna – Die Nacht der gestohlenen Schatten“ von Jenny-Mai Nuyen entschieden. Passend für meine Taube, die vor dem Inferno flieht.

„Die Taube schnappte sich das Brot aus seiner Hand und flatterte ein Stück zurück.“

Jenny-Mai Nuyen – Nocturna

Das Inferno

Die Taube schnappte sich das Brot aus seiner Hand und flatterte ein Stück zurück. Eine Krähe beobachtete das Geschehen und setzte zum Flug an. Der Junge fuchtelte mit den Händen in der Luft herum, um den Dieb zu verscheuchen. Was er nicht wusste, eine Krähe kommt selten allein. In den nächsten Minuten sammelte sich eine Schar der schwarzen Vögel auf dem Marktplatz. Drei von ihnen hackten auf die Taube ein, bis sie den Brotkrumen fallen ließ. Sie flog los, denn sie musste dringend zurück zu ihrem Nest.

Der Kirchturm brannte. Die Taube landete in ihrer heimischen Nische. Sie tippelte hektisch, denn der Boden glühte unter ihren Füßen. Die Flammen schlugen aus und griffen nach dem Nest. Sie hörte ihre Küken unaufhörlich piepsen. Sie peitschte mit den Flügeln gegen die Hitze an, näherte sich ihrer Brut und versuchte eines der Küken aus der Nische zu ziehen. Erfolglos! Das Feuer verschlang die Jungen und griff schließlich nach der Mutter. Mit brennenden Schwingen stieg sie empor und stürzte im Todeskampf wie ein Feuerball hinunter auf den Asphalt.

Vater Tauberich erblickte das Grauen aus der Ferne. Von seinem Zuhause bliebt nichts mehr übrig. Er landete auf dem Marktplatz und entdeckte seine verkohlte Gattin. Er stupste sie an und wartete auf eine Reaktion. Das Leben war aus ihr gewichen. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Große, flügellose Gestalten rannten mit Kanistern an ihm vorbei. Einige von ihnen verschwanden in den umliegenden Gebäuden und kamen erst dann wieder heraus, wenn Rauch aus den Ritzen der Gemäuer kroch.

Der Platz füllte sich mit Krähen, Raben, Elstern, Meisen, Spatzen und weiteren Vogelgattungen. Ein Rabe rief zur Versammlung.

»Unsere Heimat steht in Flammen«, krächzte er.
»Wir müssen fliehen«, erwiderten zwei Blaumeisen gleichzeitig.
»Lass uns einen Schwarm bilden und den Wildgänsen in den Süden folgen«, schlug die Elster vor.
»Sie kennen den Weg, denn sie verbringen jeden Winter in der warmen Gegend.«
Tauberich schüttelte den Kopf.
»Die Gänse sind solch langen Flug gewohnt. Wie aber sollen uns die Flügel so weit tragen?«
»Uns bleibt keine Wahl«, antwortete ein junger Spatz, »entweder wir fliegen oder das Feuer verbrennt uns.«

Die Vogelschar stimmte dem Spatzen zu. In Gemeinschaft breiteten sie die Flügel aus und flogen zum Wasser, wo die Wildgänse und Enten auf ihre Ankunft warteten. Die Gänse bildeten die Front, der Rest ordnete sich nach der Hackordnung ein.

»Stopp!« schnatterte ein Erpel, »die kleinen Vogelarten sollten zwischen uns fliegen, sonst verlieren wir sie aus den Augen, wenn sie zu langsam sind.«

Die Wildgänse stimmten zu, bildeten eine neue Reihenfolge und erhoben sich gen Himmel. Unter ihnen die brennende Stadt mit den finsteren Gestalten, die ihre Heimat vernichteten. Der Vogelschwarm zog, in der Not näher zusammengerückt, Richtung Süden und kehrte nie mehr in die Stadt zurück.

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